Russland 2.0: Das Land durch seine Sprache und Medien verstehen

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Kogge, General und Schlamm: deutsche Wörter im Russischen

18. März 2017 Landeskundemodul Sprachniveau: ,
Franziska Knapp

Unsere Sprache ist lebendig und schlau: Was sie nicht hat, aber gut gebrauchen kann, borgt sie sich aus. „Coffee to go“ aus dem Englischen, „Pizza“ aus dem Italienischen oder „Quark“ aus dem Slawischen. Solche Begriffe zeigen, dass sich verschiedene Sprachräume überlappen. Und sie zeigen noch viel mehr: Kulturen leben vom Austausch und sind keine „abgeschlossenen“ Gebilde.

Bild: gemeinfrei / Wikimedia

Wörterwanderung und Spurensuche

Das Wandern eines Wortes von einem Sprachraum in den nächsten bezeichnet man als „Entlehnung“ (заимствованиe). Entlehnungen entstehen auf Grund verschiedener Kontakte wie Handel, Auswanderung, Krieg oder Grenzziehung. Die Vermischung von Sprachen ist ein natürlicher Prozess, denn keine Sprache auf der Erdkugel ist isoliert. Die Schnelllebigkeit unseres Jahrhunderts verlangt eine rasche Bezeichnung neuer Realien, sodass viele Menschen sich gerne an einer schon bestehenden Lexik (wie Smartphone oder Blog aus dem Englischen) bedienen.

Entlehnung sind aber kein neues Phänomen; es gab sie schon immer. Man kann die Spuren der wandernden Wörter suchen und verfolgen und erfährt so viel über Kulturkontakte längst vergangener Zeiten. Ein spannendes Beispiel von sich überlagernden Sprachräumen sind die historischen Kontakte zwischen Deutschland und Russland, darunter speziell die Zeit der Hanse im Mittelalter sowie die Herrschaftszeit Zar Peters I.

Kogge und Zobel – deutsch-russische Handelsbeziehungen

Im 12. und 13. Jhd. bestanden ausgeprägte deutsch-russische Handelskontakte. Die Hanse war ein Verbund von Kaufleuten im Nord- und Ostseeraum, der intensiven Handel mit den Gebieten Nordrusslands führte. Pelz, Stoffe, Wachs und Holz waren begehrte russische Produkte.1 Erste Entlehnungen aus dem Deutschen aus dieser Zeit findet man in russischen Handelsbriefen, wie zum Beispiel die Worte когг2 (Kogge, ein bauchiges Transportschiff) und бунт (Bund). Auch andersherum funktionierte das Prinzip der Entlehnung, stammt doch der deutsche „Zobel“3 vom Russischen соболь ab.

Peter der Große und sein Fachkräftemangel

Die von Peter I. (1672–1725) in atemberaubendem Tempo vorangetriebene Modernisierung und Reformierung Russlands veränderte das Gesicht Russlands grundlegend. Die Veränderungen betrafen viele Bereiche: Politik und Verwaltung, Militär, Wirtschaft, Industrie und Gesundheitswesen sowie den Bildungs- und Wissenschaftssektor.4

Während seiner Herrschaft warb Peter I. viele ausländische Arbeiter und Wissenschaftler an, die ihm bei der Verwirklichung seiner Ideen helfen sollten. So brachte Peter I. nach seiner ersten Auslandsreise 1697/98 ausländische Schiffbauer und Seeleute mit, unter ihnen viele Norddeutsche. Aus dieser Zeit stammt zum Beispiel die deutsche Entlehnung капитан (Kapitän).5

Während des Großen Nordischen Krieges (1700-1721) verfasste Peter I. im Jahre 1702 ein dringliches Anwerbungsmanifest – Artilleristen, Ingenieure und Offiziere kamen aus Deutschland und Österreich, sodass das russische Offizierskorps beim Sieg über Poltawa (1709) hauptsächlich aus ausländischen Offizieren bestand.6 Aus dem militärisch-administrativen Bereich stammt eine enorme Anzahl deutscher Entlehnungen im Russischen, die aber, das sei vermerkt, gewöhnlich von der Oberschicht7 benutzt wurden. Hier eine kleine Auswahl: фельдфебель (Feldwebel), генерал (General), офицер (Offizier), вахта (Wacht) штурм (Sturm) oder бухгалтер (Buchhalter).8 Sogar die von Peter I. im Jahre 1703 neu gegründete Hauptstadt Russlands erhielt einen deutschen Namen: St. Petersburg.

Theaterstück mit Anschlag

Lernt man eine neue Fremdsprache, freut man sich natürlich immer, wenn man auf Entlehnungen aus der eigenen Sprache stößt – endlich kann Zeit beim Pauken eingespart werden. Manchmal sind diese angeblichen „Wortfreunde“ aber purer Betrug! In der Sprachwissenschaft werden sie deswegen auch als “Falsche Freunde” bezeichnet. “Falsche Freunde” sind Wortpaare aus zwei Sprachen, die sehr ähnlich aussehen, jedoch verschiedene Bedeutung haben.

Das Wort фамилия, das dem deutschen Wort Familie sehr ähnlich zu sein scheint und (höchstwahrscheinlich) auch aus dem Deutschen entliehen wurde, ist im heutigen Russisch nicht eine Gruppe von verwandten Personen, sondern schlicht der Familienname/Nachname einer Person. Ebenso deutscher Herkunft ist das russische Wort аншлаг. Dieses bedeutet einerseits wie im Deutschen „Bekanntmachung“, aber nur im Theaterkontext, und zwar die Bekanntmachung, dass alle Karten verkauft sind. Aber auch diese Bedeutung kennt kaum jeder Russe. Welche aber alle kennen ist „ausverkaufte Vorstellung“ oder „voller Saal“. Man sollte also Ruhe bewahren, wenn man auf Russisch hört, dass heute im Theater anschlag war.

Ente und Weltanschauung

Von Entlehnungen spricht man nicht nur wenn ein Fremdwort als ganzes übernommen wurde. Es gibt auch semantische Entlehnungen, wenn ein zusätzlicher Sinn zu dem schon vorhandenen Sinn entsteht. So beschrieb früher das Wort утка (Ente) im Russischen nur das Tier, während es im 18. Jhd. aus dem Deutschen oder Französischen übernommen wurde, um eine Lüge der Presse zu benennen.

Eine andere Art der Entlehnungen sind Lehnübersetzungen – die Übersetzung in die Sprache mit eigenen vorhandenen sprachlichen Mitteln. Односторонний / einseitig, мировоззрение / Weltanschauung oder образование / Bildung. Diese Wörter haben ihren Ursprung in der Begeisterung der russischen Intelligenzija von deutschen Philosophen und Literaten.


Fußnoten:

1. Näheres dazu im Europäischen Hansemuseum in Lübeck: www.hansemuseum.eu

2. Vgl.: dic.academic.ru/dic.nsf/ruwiki/646837 (02.03.17, 18:07 Uhr)

3. Vgl.: www.dwds.de/wb/Zobel (03.03.17, 19:15 Uhr)

4. Koch, Kristine: Deutsch als Fremdsprache im Rußland des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des Fremdsprachenlernens in Europa und zu den deutsch-russischen Beziehungen, u.a. Berlin 2002, S. 22.

5. Eščerkina, L. V.: Istorija proniknovenija germanizmov v strukturu russkogo jazyka. In: Upravlenie v sovremennych sistemach, Nr. 2 (6) 2015, S. 29.

6. Koch, S. 61.

7. Koch, S. 44.

8. Efimova, R. M.: Nemeckie zaimstvovanija v russkom jazyke, S. 2-5.


Text: Franziska Knapp unter CC BY-SA 4.0

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